Tagungsbericht von der Bilanzkonferenz des Alphabundes am 29. März in Berlin

Rund 250 Grundbildungsbewegte aus Forschung, Praxis, Verwaltung und Politik fanden am 29. März den Weg in das ehemalige Haus des Lehrers und jetzige lichte und freundliche Berliner Congresscenter (bcc) am Alexanderplatz zur Bilanzkonferenz „Wenn Erwachsene lesen lernen … Alphabetisierung – Grundbildung – Teilhabe“ des BMBF-Förderschwerpunktes „Alphabund – Forschungs- und Entwicklungsvorhaben zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener".

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) richtete den Förderschwerpunkt 2007 ein, um der alarmierenden Tatsache, dass zahlreiche Menschen in Deutschland nicht ausreichend lesen, schreiben und rechnen können sowohl mit Grundlagenforschung als auch mit der Entwicklung von Konzepten und Handlungsansätzen erstmalig in größerem Maßstab Rechnung zu tragen und so Erkenntnisse zu gewinnen, wie dem so genannten funktionalen Analphabetismus begegnet werden kann. Dazu wurden und werden im Rahmen des Förderschwerpunktes im Zeitraum von 2008 bis 2011 / 2012 in 24 Verbünden über 100 Projekte zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener gefördert.

Folgende acht Fachgruppen bilanzierten und diskutierten auf der Tagung ihre Ergebnisse in den Fachforen:  

  • Neurobiologische Grundlagen – neue Impulse für die Vermittlung von Schriftsprachlichkeit
  • Zielgruppenanalyse
  • Anforderungen an Schriftsprachlichkeit und Grundbildung 
  • Lernberatung
  • Unterricht
  • Professionalisierung der Kursleitenden
  • sozialräumliche Vernetzung von Grundbildungsangeboten
  • Nachhaltigkeit  

Die Leo.Level-One-Studie 

Die Leo.Level-One-Studie unter der Leitung von Prof. Anke Grotlüschen wurde auch im BMBF-Förderschwerpunkt erarbeitet: Diese Studie belegt, dass 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland im erwerbstätigen Alter nicht richtig lesen und schreiben können. Die Zahl liegt also sehr viel höher als der bisherige Schätzwert des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung, der von etwa vier Millionen funktionalen Analphabeten ausging. Die Studie, deren Detailauswertung noch bis 31.12. 2012 an der Universität Hamburg erfolgt, wurde auf der Tagung ausführlich erläutert und vorgestellt.

Hier der Link zum anschaulichen und informativen Presseheft.  

Als Reaktion auf die hohe Anzahl von nicht ausreichend literaten erwachsenen Menschen wurde am 28. Februar bei der Vorstellung der Studie im BMBF von Bildungsministerin Annette Schavan und dem Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz Bernd Althusmann ein „Grundbildungspakt des Bundes und der Länder“ angekündigt. Ein breites gesellschaftliches Bündnis aus u. a. Unternehmensverbänden, Gewerkschaften, Kammern und den Volkshochschulen sei notwendig, um gegen fehlende und mangelnde Lese- und Schreibkenntnisse vorzugehen, so Schavan. Die Leo.Level-One Studie zeige nämlich, dass es „Analphabetismus in Deutschland in einer Größenordnung (gibt), die nicht mehr eine Nische darstellt. Diesem Problem müssen wir uns gemeinsam stellen. Denn sprachliche Bildung als eine der wichtigsten Kulturtechniken dürfen wir nicht geringschätzen."

Aufgrund des hohen Handlungsdrucks spitzte Judith Schulte-Loh vom WDR 5 in der Moderation auf dem Podiumsfachgespräch Analphabetismus, gesellschaftliche Teilhabe und Arbeitswelt die Diskussion immer wieder auf die Konsequenzen zu, die die Podiumsteilnehmenden – Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, einer Mitarbeitervertretung sowie eines großen Sozialverbandes - jeweils aus ihrer Perspektive aus der aktuellen Analyse und angesichts der neuesten Erkenntnisse des Alphabundes identifizieren und ziehen.

Das Podiumsfachgespräch

So machte Matthias Anbuhl, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes, beispielsweise den Vorschlag, ähnlich wie in England nach dem Modell der "Union-Learning-Representatives" Multiplikator_innen für Grundbildung über die Betriebsräte und Gewerkschaften weiterzubilden und so "in die Fläche der Betriebe zu kommen“, um Grundbildungsbedarfe in der Arbeitnehmerschaft zu erkennen und aufzunehmen.

Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände plädierte für eine Haltungsänderung in den Unternehmen, die angstfreie Räume schaffen sollte, in denen es möglich sein soll "Unvermögen nicht mehr verstecken zu müssen". Diese Aussage erntete wenig Zustimmung im Publikum, sondern wurde u.a. mit Hinweisen auf den starken Leistungsdruck und großen Konkurrenzkampf, die die Arbeitswelt weitgehend prägen, kontrastiert.

Waltraut Haupts, Sprecherin der Mitarbeitervertretung der Iwan Budnikowsky GmbH (Hamburg) forderte eine Veränderung der Unternehmenskultur dahingehend, den einzelnen Mitarbeiter als Persönlichkeit zu akzeptieren und nicht allein als notwendiges Element der Wertschöpfungskette, um so die Voraussetzung für tiefgreifende und nachhaltige Lernprozesse zu schaffen, die dann auch dem Unternehmen wieder zu Gute kommen.

Prof. Dr. Barbara John, Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, betonte, dass durch die Studie klar wird, dass Bildungsdefizite ein Problem sind, das quer durch alle Gesellschaftsschichten geht und für das die Gesamtgesellschaft und die Politik Verantwortung zu übernehmen hat. Daraus folgt, dass Bildungsmaßnahmen nicht auf bestimmte – konstruierte – Zielgruppen, sondern auf aktuelle Bedarfe zugeschnitten werden müssen.

Einengung von Maßnahmen auf Zielgruppen nicht konstruktiv

Dass auch einzelnen Akteur_innen des Alphabundes sich einer bedarfsbezogenen Herangehensweise nicht stellen, sondern Bildungsmaßnahmen auf bestimmte Zielgruppen einengen, zeigte die im Folgenden kurz dargestellte Diskussion im Fachforum 5 "Arbeitsplatzbezogene Grundbildung - employability oder empowerment" .

Dort hat der Projektverbund GIWA (Grundbildung in Wirtschaft und Arbeit) sein Resümee zum Lernen im Betrieb formuliert, konkretisiert an dem spannenden Teilprojekt FAKOM, von Karin Behlke  vorgestellt. Die Teilnehmer_innen des Projekts waren in der Altenpflege Beschäftigte mit Migrationshintergrund, die für sich einen weiteren Entwicklungsbedarf hinsichtlich ihrer Sprachkompetenz sahen. Die Maßnahme zeichnete sich durch eine an den sprachlichen Bedürfnissen der Teilnehmenden ausgerichtete Herangehensweise aus. Hier der Link zur Projektkurzbeschreibung.

Eine konstruktive Diskussion der vielen inhaltlich und methodisch interessanten Aspekte des Projekts wurde durch Einwände mehrerer Vertreter_innen des Alphabundes verhindert, die darauf beharrten, dass der Förderschwerpunkt in erster Linie für funktionale Analphabeten deutscher Herkunftssprache eingerichtet worden sei. 

So konnte weder die gesellschaftliche Realität der gemischten Teilnehmergruppen noch der Gedanke der gegenseitigen Anreicherung der Handlungsansätze und konzeptuellen Herangehensweisen zum Tragen kommen. 

Abschluss

Während des ganzen Tages präsentierten sich alle Verbundprojekte des Förderschwerpunktes im Rahmen einer Messe. Neben den vielen Austauschgesprächen zu den erarbeiteten  Produkten und Ergebnissen bewegte die informellen Gespräche natürlich die Frage, wie es weitergehen soll, bevor die im Alphabund versammelte Fachkompetenz sich in alle Winde verstreut. Die zwar sehr anerkennende und auf alle Teilprojekte kenntnisreich eingehende Rede der Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen aus dem Bundesministerium für Bildung und Forschung blieb in der Frage der geplanten zukünftigen Weiterarbeit des Förderschwerpunkts leider sehr unkonkret.

Es lohnt sich daher umso mehr die Zusammenarbeit mit den einzelnen Projektverbünden aktiv zu suchen und die Ergebnisse, die jetzt nach und nach veröffentlicht werden auszuwerten und in die eigene Arbeit einzubeziehen. So soll u.a. eine „Landkarte“ für Fortbildungsangebote für Lehrende in der Alphabetisierungs- und Grundbildungsarbeit in Deutschland erstellt werden und eine Datenbank mit den im Förderschwerpunkt entwickelten Lehr- und Lernmaterialien veröffentlicht werden. Die Redaktion wird laufend über interessante Einzelergebnisse und relevante Produkte berichten.

In diesem Zusammenhang möchten wir darauf hinweisen, dass Karin Behlke ihr innovatives Projekt FAKOM auf Einladung der Koordinierungsstelle auf der letzten Sitzung des Facharbeitskreises Berufsbezogenes Deutsch Anfang Mai vorgestellt hat (hier der Link auf die Präsentation). 

Die Bilanzkonferenz besuchte Andrea Snippe.