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Knapp an die knappe Wirklichkeit heran: Unterrichtserfahrungen aus dem innerbetrieblichen Kurs „Vorbereitung auf die theoretische Schweißerprüfung“

 „Ich lese, aber ich verstehe nicht: Was will diese Frage von mir?“ mit dieser Aussage fasst ein Kursteilnehmer das Kernproblem, das die theoretische Fachkundeprüfung für ihn und seine Kollegen, eine Gruppe von fünfzehn praktisch äußerst versierten U-Boot-Schweißern mit türkischer Ausgangssprache, darstellt, bündig zusammen.

 

Der Deutsch- am-Arbeitsplatz -Kurs, der von Ende September 2009 bis Mitte Januar 2010 von der Koordinierungsstelle Berufsbezogenes Deutsch auf Initiative der Betriebsräte einer norddeutschen Werft als innerbetriebliche Weiterbildung durchgeführt wurde, zielte in erster Linie auf die Unterstützung und Weiterentwicklung des Leseverstehens. Dabei tauchten sowohl bei der Sprachstandserhebung zu Beginn als auch während des Kursverlaufs weitere Bedarfe und Bedürfnisse der Teilnehmer auf: Diese Bedarfe sind aus der im Folgenden beschriebenen festgefahrenen Situation entstanden. 

 

Aufgrund der geänderten Prüfungsrichtlinien, die eine umfangreiche Fachkundeprüfung für jeden Schweißer obligatorisch machen, sind inzwischen auch die als An- und Ungelernte auf der Werft eingestiegenen Schweißer, die sich im Laufe ihrer Arbeitstätigkeit durch ihre Handfertigkeit als sehr wertvolle Mitarbeiter bewährt hatten, gezwungen diese Prüfung zu bestehen. Viele Schweißer mit anderen Erstsprachen als Deutsch scheiterten immer wieder an dieser Hürde. Auch deutsche Muttersprachler hatten ihre Schwierigkeiten mit der Theorieprüfung, die in der Regel aus insgesamt 40 Multiple-Choice-Fragen aus 4 Fachbereichen (Schweißprozesse, Material, Qualitätssicherung und Arbeitssicherheit) besteht.

Zur Veranschaulichung hier ein Beispiel für eine Prüfungsfrage.

 

Die Durchführung und Gestaltung des Kurses zur Prüfungsvorbereitung 

 

Die Durchführung des Kurses war sowohl für die Teilnehmer, die initiierenden Betriebsräte als auch für die Kursleiter eine Zerreißprobe: Inmitten der schwierigen knappen Bedingungen der betrieblichen Realität (beispielsweise mangelhafter Information der Mitarbeiter, unklarer Absprachen, etc.) - sollten in dem engen  Zeitraum von 50 Unterrichtseinheiten die potentiellen Momente von Lernzuwachs und nachhaltigem Empowerment ausgeschöpft werden. An zwei Tagen  pro Woche, in jeweils 90 Minuten zwischen der Frühschicht und der Spätschicht, haben sich die Teilnehmer daher mit hoher Motivation im Knacken der Prüfungsfragen geübt.

 

An zwei aufeinanderfolgende Wochen aus der Anfangsphase des eigentlich für 100 Unterrichtseinheiten konzipierten Kurses möchte ich nun wesentliche Schwerpunkte und Herausforderungen einer Prüfungsvorbereitung herausgreifen, wie sie sich in der konkreten Unterrichtssituation dargestellt haben. Die Szenarien „Wie kann ich mich auf die Prüfung vorbereiten“ und „Warum ist diese Prüfung so schwer?“ aus dem Modul „Werkzeuge und Techniken zum Verstehen von Wörtern, Sätzen und Texten zum Knacken der Prüfungsfragen (Prüfungsteil „Schweißprozesse“)“ dienten dabei als Denk- und Handlungszusammenhang, um den spezifischen und vielfältigen Anforderungen, auf die diese Prüfungsvorbereitung zu antworten hatte, in kleinschrittiger, systematischer und den Teilnehmern plausibler und nachvollziehbarer Form gerecht zu werden.

 

Durch das Bereitstellen und Anwenden von „Lerngerüsten“ sollten die TN Schritt für Schritt zum einen immer mehr in Stand gesetzt werden, die Bedeutung der Prüfungsfragen zu erfassen und ihr sprachliches und fachliches Wissen in den Prüfungsthemen zu erweitern zum anderen aber auch wieder Selbstvertrauen in ihr eigenes Fachwissen und ihre Lernfähigkeit erlangen sowie einen pragmatischen und kritischen Umgang mit der Prüfungssituation erlernen.

 

Lerngerüste zur Annäherung an die Prüfungssituation: zwei exemplarische Unterrichtseinheiten

 

Im Sinne des Scaffolding (Gibbons, 2002), verstanden als aufbauende Sprachförderung, haben die Teilnehmer im sozialen Interaktionsprozess Aufgaben, die sie allein noch nicht lösen können, durch Anleitungen, Denkanstöße und Hilfestellungen von den Kursleitern und den Kurs-Kollegen bewältigt. Auch eine andere wichtige Technik des Scaffolding, das Isolieren von einzelnen Problemen und Schwierigkeiten, damit sie besser bewältigt werden können, wurde im Unterricht angewandt. 

 

Die Hauptaufgabe der Prüfungsvorbereitung im Kurs lag darin für die Teilnehmer die Prüfung zu entmystifizieren, sie buchstäblich auseinanderzunehmen und zu analysieren und gleichzeitig dazu passende Lese- und Lerntechniken zur Bewältigung der einzelnen Schwierigkeiten zu vermitteln. 

 

Das erste Szenario: „Wie kann ich mich auf die Prüfung vorbereiten?“ bildete den Rahmen für das Thema Lern- und Lesetechniken mit folgenden Zielsetzungen:

 

  • Die TN lernen unterschiedliche Lernkanäle kennen.

  • Die TN lernen die Lerntechnik „Vorwissen aktivieren“ kennen.

  • Die TN können die Technik Schüsselwörter markieren anwenden und zur Unterstützung ihres Leseverstehens einsetzen.

  • Die TN können die Technik „Hypothesen bilden“ als Teilschritt zur Bewältigung von Multiple Choice Tests anwenden.

  • Die TN können schwierige Wörter und Wendungen benennen und für ein Glossar (individuell und für den Kurs) sammeln.

Die Vorgehensweise im Einzelnen können Sie dem Unterrichtsprotokoll, das als pdf-Datei hier zur Verfügung steht, entnehmen.

 

Der Schwerpunkt dieser beiden Unterrichtstermine lag darin, die Teilnehmer über eine Informations- und Reflexionsphase sowie über die Anwendung von Lern- und Lesetechniken wieder in Kontakt mit ihren eigenen Wissensressourcen zu bringen. 

Eine Schlüsselaktivität stellt dabei der Schritt  „Hypothesen bilden“ dar.Die Fokussierung auf jeweils nur die Frage unter bewusster Ausblendung der vier Auswahlantworten entlastet die Teilnehmer und konzentriert sie gleichzeitig auf das Erfassen der Schlüsselbegriffe. Sobald diese verstanden sind und die sprachlichen Hürden weitgehend ausgeräumt sind, können sich die Teilnehmer mit der Wissensebene beschäftigen. In ihren eigenen Worten entwickeln und formulieren die Teilnehmer im Austausch untereinander Lösungsvorschläge und können dabei direkt aus ihrem eigenen Vorwissen schöpfen.

Um die eigenen Hypothesen zu überprüfen, erhalten die Teilnehmer die richtigen Antworten (die verwirrenden drei falschen Auswahlantworten werden auch hier bewusst weggelassen) und puzzeln sie zu ihren Lösungsvorschlägen. Damit können die Teilnehmer eine Brücke von ihren Formulierungen zu der abstrakteren und komplizierteren Prüfungs- und Fachsprache schlagen. Die bisher hermetischen und unzugänglichen Begriffe werden dadurch durchschaubar und verlieren ihren Schrecken.

 

Reflexionsphase: Verstehensbarrieren identifizieren und benennen 

 

Das zweite Szenario  „Warum ist die Prüfung so schwer?“ bildete die Dachfrage für das Thema Verstehensbarrieren mit folgenden Zielsetzungen:

 

  • Die TN können den Prüfungstypus „Multiple Choice“ analysieren und mögliche Bewältigungsstrategien anwenden

  • Die TN können die unterschiedlichen Verstehensbarrieren benennen.

  • Die TN können bisher kennengelernte Lese- und Lerntechniken bei ihrer eigenständigen Prüfungsvorbereitung anwenden.

 

Den Verlauf im Detail können Sie im Unterrichtsprotokoll, das hier als PDF-Datei zur Verfügung steht, nachvollziehen. 

Weil sie eine entscheidende Schlüsselaktivität aus der Sequenz der beiden Unterrichtstermine darstellt, möchte ich auf die Reflexionsphase eingehen, in der im Kursgespräch die einzelnen Barrieren, aus denen die Prüfung besteht, benannt und thematisiert wurden. Auf dem White-Board wurde dabei im Plenumsgespräch eine Visualisierung der unterschiedlichen Barrieren erarbeitet.

Hier der Link zum Tafelbild als PDF. 

Es ging bei der Reflexionsübung darum, den scheinbar übermächtigen „Gegner“, die Fachkundeprüfung und deren Tücken auf einer objektiven Ebene zu analysieren, die Schwierigkeiten genau kennenzulernen und Verständnis dafür zu entwickeln, aus welchen Gründen ein Scheitern an der Prüfung erfolgen kann. Damit hatten die TN eine Grundlage, die offiziell genannten Erklärungen von Seiten des Betriebs für das ständige Durchfallen, beispielsweise, dass die Teilnehmer nur zu faul wären, zu entkräften und sich dagegen zur Wehr zu setzen. Aus dieser geklärten Position heraus lassen sich dann viel besser Strategien zum Aushebeln der Schwierigkeiten entwickeln. Ein Teilnehmer hat dann ja auch die entscheidende Schlussfolgerung gezogen, dass zur Überwindung der vielfältigen Verstehensbarrieren eine Leiter gebraucht wird.

 

Literatur

  

Gibbons, Pauline (2002): Scaffolding language, scaffolding learning. Teaching second language learners in the mainstream classroom. Portsmouth.

 

Andrea Snippe (Koordinierungsstelle Berufsbezogenes Deutsch)